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Joern

Letzte Woche habe ich Jörn endlich mal zumindest am Telefon erreicht. Er wohnt nicht mehr zu Hause, aber bei seiner Großmutter ist er gerade auch nicht, sondern in einem kleinen Dorf, dessen Namen er kaum kannte. Er wußte auch nicht wo es liegt, er mußte seine Freundin fragen (vielleicht habe ich ihn richtig verstanden und sie kommt von dort) und meinte irgendetwas über Luxemburg, oder in der Nähe, oder so.

Jörns Vater ist auch nicht zu erreichen, die Wohnung scheint leer zu stehen, niemand öffnet, nirgends brennt Licht, aber die Nachbarn im Hochhaus wissen auch von nichts.

In der ZEIT war letzten Donnerstag ein Artikel über die Verfolgung von Sinti und Roma während der NS-Zeit, die heute noch von vielen geleugnet wird. 500.000 sind von den Nazis ermordet worden. Heute leben in Deutschland ca60.000 Sinti und Roma.

In Jörns Familie hat sich einiges geändert. Er hat zwar wieder eine neue Freundin, die lange Rocke tragen muß und Jörn gerne daran erinnert, wie wichtig es ist, treu zu sein. SIe ist mit Sicherheit jünger als Jörn, und Jörn ist gerade fünfzehn geworden.
Außerdem ist seine Stiefmutter verschwunden, plötzlich war sie weg, mehr weiß Jörn nicht, und sein Vater erzählt nicht mehr darüber. Sein Vater sieht immer grauer, schmaler und kleiner aus. Mittwoch abend mußte ich lange an der Tür warten, bis jemand geöffnet hat, und dann dachte ich erst, jemand anders wäre in die Wohnung gezogen: in der Tür stand ein aufgedunsener Mann, ein Deutscher, kein Sinti, sehr betrunken, kurzatmig, seine Wangen gerötet und glänzend. Aber dann tauchte Jörns Vater doch hinter ihm auf, und wollte uns reinbitten, war aber genauso betrunken.
Außerdem hatte der Unbekannte etwas gegen unsere Anwesenheit, keine Ahnung was ER in der Wohnung wollte, abgesehen vom Trinken. Was wollen Sie eigentlich hier, versuchte er zu fragen, von welcher Institution (mit diesem Wort hatte er ziemliche Schwierigkeiten) kommen Sie denn? Bitte tun Sie mir einen Gefallen - Jörn ist nicht hier. Und dann hat er langsam die Tür geschlossen, und Jörns Vater stand dahinter und sah sehr hilflos aus, und einsam, und noch jungenhafter und weniger erwachsen als sein Sohn.

Jörn ist wieder da, gestern habe ich ihn getroffen, mit seiner Freundin, sie heißt Lena und ihretwegen hat er den Großteil seines Praktikums im Supermarkt geschwänzt, er wollte sie lieber auf ihrer Praktikumsstelle besuchen, in einem Geschenkeladen in der Innenstadt. Seinem Vater geht es wirklich schlechter, er kann kaum noch sehen und wirkt ganz grau und blaß, zum Arzt darf er aber trotzdem nicht gehen. Jörn behauptet: erst wenn es seinem Vater wirklich schlecht geht, dann kann er zum Familienrat gehen und der entscheidet dann, ob ein Arztbesuch erlaubt werden kann oder nicht, und natürlich würden die dann auch mitkommen. Zur Zeit ist der Familienrat aber in Frankreich. Wenn der Familienrat so weit weg ist, könnte dein Vater nicht einfach heimlich zum Arzt gehen?, frage ich Jörn. Ne, das würden die ja mitkriegen, die beobachten uns ja, meint Jörn. Er würde auch wissen, wer ihn beobachtet, sogar wenn er zum Arzt geht, würde der mit in die Praix kommen. Er hat ihn schon mal angesprochen und der hätte gesagt, seinem Vater dürfe er nichts erzählen.

Ihr habt schon genauso lange nichts mehr von Joern gehört wie ich, das letzte was ich von ihm gehört habe, hat Daniel mir erzählt, der ihn vor ein paar Wochen mal im Coerdemarkt gesehen hat.
Ein bißchen macht mir das Sorgen, denn in den letzten Wochen war bei Joern nie jemand zuhause, und das ist sehr ungewöhnlich. Vor ein paar Wochen stand in der Zeitung, dass in Coerde 23% der Einwohner den ganzen Tag lang nicht ihre Wohnung verlassen. Da mußte ich sofort an Joerns Familie denken, Joern geht zwar zur Schule, aber sein Vater und seine Stiefmutter sind eigentlich immer zuhause, sie sitzen vor dem Fernseher, oder vor der Videospielkonsole, egal wie schön draußen das Wetter ist, aber die Wohnung scheinen sie nie zu verlassen, vielleicht gehen sie zweimal die Woche was einkaufen, oder zu irgendeinem Amt, Bescheinungen einreichen, oder die Sozialhilfe abholen.
Wo sind sie jetzt?

Gestern habe ich Jörn in der Nähe vom Coerdemarkt getroffen, auf der Straße sieht er noch ein bißchen mehr aus wie ein kleiner Junge, und obwohl man eigentlich damit gerechnet hat, ist man geschockt, daß er mit einer Zigarette in der Hand rumläuft, ein Mädchen ist dabei, bestimmt seine Freundin, und zwei kleine Kinder mit Stützradfahrrädern.
"Auf die muß ich heute aufpassen", meint Jörn, "passiert ja soviel in Coerde." Und da hat er recht, er selbst ist erst vor ein paar Wochen zusammengeschlagen worden. Nach eigener Darstellung haben zwei größere Jungen ihn angepöbelt, als er sich das nicht gefallen lassen wollte, hat einer der beiden ihn mit einer Stahlröhre auf den Schädel geschlagen, Jörn mußte ins Krankenhaus und noch Wochen später klagte er über Kopfschmerzen (zum Arzt gehen wollte er aber trotzdem nicht).

Diese Woche ist Jörn nicht zuhause, er macht (er hat ja gerade Osterferien) Urlaub bei seiner Großmutter. Sie wohnt am Horstmarer Landweg, Jörn kann mit dem Bus hinfahren und muß nur einmal umsteigen, in rot verklinkerten Mehrfamilienhäusern, in denen noch mehr Sinti-Familien wohnen. Die Türen der Häuser sind nie geschlossen, meistens stehen ein paar Menschen vor dem Häusern und unterhalten sich, und manchmal machen sie sogar Musík. Die Deutschen in der benachbarten Siedlung mit Einfamilienhäusern empfinden das als bedrohlich, in Wirklichkeit machen die wenigen Deutschen, die auch in den Wohnblöcken wohnen, mehr Angst: sie haben fast alle riesengroße, laute, verhätschelte Hunde, die angeblich niemandem was tun.

Eigentlich hätte ich diese Rubrik auch Jenö nennen können: so heißt ein Sinti-Junge aus einer Geschichte von Wolf-Dietrich Schnurre, dem Lieblingsschriftsteller meines Onkels. Die Geschichte war in irgendeinem meiner Schullesebücher, und letztens habe ich sie wieder gelesen, als ich Deutsch-Nachhilfe gegeben hab, und da ist mir wieder eingefallen, wie aufregend ich das als Kind fand, daß Jenö Igel fängt - und grillt.
Jörn, den es ja nun mal wirklich gibt, erzählt mir immer wieder, sein Vater dürfe nicht zum Arzt gehen, weil er Sinti ist, wenn er das doch täte, würde er aus seiner Familie ausgeschlossen (die Höchststrafe, wenn man 3000 Verwandte hat) und müßte sich zwei Wochen lang ununterbrochen die Hände waschen. Das hört sich absurd an, ist aber eigentlich nicht besonders witzig: Jörns Vater hat eine Bindehautentzündung und kann kaum noch was sehen. Er trägt fast grundsätzlich eine Sonnenbrille.
Heute morgen auf der Arbeit habe ich im Netz Informationen gesucht, warum Sintis nicht zum Arzt dürfen. Ich habe zwar interessante Seiten gefunden
(z.B. www.gfbv.it/3dossier/sinti-rom/de/rom/de/rom-de
oder: www.hans-hesse.de [auf dieser Seite gibt es auch Informationen zu anderen vergessenen Opfern der NS-Diktatur, z.B. Zeugen Jehovas]),
aber nichts über verbotene Arztbesuche.
Vielleicht kann mir jemand weiterhelfen?
Ich glaube, das wäre auch Jörns Vater eine Hilfe.

Das ist selektive Wahrnehmung: wenn man anfängt, sich für was zu interessieren, sieht man ständig Artikel und Bücher zu dem Thema.
Heute zum Beispiel ein Artikel über Romas in Osteuropa. Deswegen heute noch ein paar Fakten über Sinti und Roma, von denen ich bisher nichts wußte:
Als in Europa die Pest wütete, wurden dafür nicht nur Juden verantwortlich gemacht, sondern auch Roma.
Kaiser Maximilian empfahl sie 1500 allen mutwilligen Mördern als vogelfrei.
Kaiser Karl VI. ordnete 1721 die Vernichtung aller männlichen Roma an.
Für die Vernichtung von Sinti und Roma durch die Deutschen während des Zweiten Weltkrieges gibt es in deren Sprache Romans ein eigenes unaussprechliches Wort, dessen Übersetzung ich erst noch rausfinden muss.
In den fünfziger Jahren befand der Bundesgerichtshof, dass die "Massnahmen" der Nazis nicht wegen der "Rasse als solcher", sondern aufgrund ihrer "asozialen Eigenschaften" erfolgt seien.
Im Herbst 2003 entschied eine Richterin in Ungarn, dass zwei Roma, die 15 Monate unschuldig inhaftiert waren, nur einen Bruchteil der geforderten Entschädigung erhalten sollten, da es sich nur um "primitive Individueen" gehandelt habe.
In Osteuropa leben 6 Millionen Roma und Sinti, die ab Mai zur EU gehören.
Habt ihr auch das Gefühl, über Sinti und Roma nur zu wissen, dass man sie früher Zigeuner nannte? Wenn ihr mehr wißt, oder auch mehr wissen wollt, schreibt mal.

Kurz die Fakten: Jörn ist Sinti und lebt in Deutschland. Er hat mindestens 3000 Verwandte und ca. 400 Cousinen, eine Schätzung, die er für untertrieben hält. Und 300 Cousins. Er ist gerade fünfzehn Jahre alt und hätte letztes Jahr fast geheiratet, das ist bei Sintis Brauch, mit vierzehn wird man verheiratet und mit sechzehn bekräftigt man die Ehe vor dem Standesamt. Das Mädchen, etwas jünger als er, wollte dann aber doch nicht.
Jörns Vater kann nicht lesen und hat den größten Teil seiner Jugend im Gefängnis verbracht. Er kann heute noch manchmal nächtelang nicht schlafen, weil er damals jemanden umgebracht hatte. Zwei seiner Geschwister sind an Álkoholsucht oder dessen Folgen gestorben, Jörns Vater trinkt auch mindestens stündlich ein Bier. Sein Bruder hat einen Getränkegroßhandel.
Weil man in unserer Wohlstandsblase manchmal vergißt, das es ganz in unserer Nähe, manchmal schon auf der anderen Straßenseite, Lebenswelten und menschliches Elend gibt, die wir uns meistens gar nicht vorstellen wollen, und weil wir uns niemals eingestehen, daß wir schuld sein könnten an dem Elend, oder zumindest davon profitieren, geht es in dieser Rubrik um eine Sinti-Familie in unserer Stadt. Und um ihren Kampf ums Glück.
(Wie soll die Rubrik heissen? Mir fällt nichts gescheites ein, Vorschläge willkommen)
Heute zum Beispiel hat Jörns Vater Sinti-Musik vorgespielt, klang wie sonst auch Musik aus dem Balkan, ziemlich melancholisch, aber mit Samba-rythmen. Ein Cousin hatte die Kassette aufgenommen, eigentlich waren das Beerdigungslieder. Jörns Vater hat manche Zeilen übersetzt:
Ich will dich festhalten, mein Vogel.
Verlaß mich nicht.
Du hast mich angelogen.
Jedes Mal.
In der Kirche.
(und dann hat er noch die Stelle gezeigt, an der der Sarg runtergelassen wird, und bei einer richtigen Beerdigung geht die Guitarre reih um und jeder spielt eine Strophe, Jörns Vater sagt, er könne auch noch Guitarre spielen).

 

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