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In der Reihenhaussiedlung meiner Eltern wohnt zwei Häuser weiter ein ziemlich spießiges Ehepaar (Zwischenfrage: wie definiert man spießig? Mein Vorschlag: wenn man nicht über seinen eigenen Horizont gucken kann, oder besser noch: nicht gucken will). Im Garten langweilen sich Löwenskulpturen und Laternen aus falschem Marmor, wenn man sich vor dem Haus unterhält, bringt sie grundsätzlich gerade zufällig den Müll raus oder muß die Blumen gießen, der Mercedes wird jeden Samstag gewaschen (obwohl das eigentlich nicht erlaubt ist) und beide ärgert es sehr, wenn der Parkplatz direkt vor ihrem Haus besetzt ist. Vor ein paar Jahren ist das Fürchterlichste passiert: ein Sturm hat eine hohe Birke so unglücklich gefällt, dass dabei der Zierapfelbaum, die Krönung des Gartens, zerstört wurde. Und dann ist wegen zweier Todesfälle (aber das ist eine andere Geschichte) auch noch das direkte Nachbarhaus freigeworden und beinahe wäre eine türkische Familie mit vielen Kindern dort eingezogen. Ich hatte mich schon auf große orientalische Gartenfeste gefreut, aber die Mercedesfahrer hatten tatsächlich vor, etwas dagegen zu unternehmen, wie auch immer sie sich das vorgestellt haben. Jetzt wohnt jedenfalls ein kinderloses Paar in dem Reihenhaus, aber ihre Nachbarn sind trotzdem nicht zufrieden. Er fährt einen tiefliegenden, hellblauen Zweisitzer, den man sehr leicht übersehen kann, wenn man versucht mit dem Mercedesschiff einzuparken, und beide hören bestimmt keine deutschen Schlager, renovieren alles im Haus selber - was auch nicht lautlos bleibt - und haben gerne Besuch, mit dem sie im Garten sitzen, viel reden und manchmal sogar lauthals lachen. Menschen gibt es.
Weil unsere Nachbarn keine Lust mehr hatten, ständig unerwartet ältere Leute in ihrem Garten raumlaufen zu sehen, sind sie auf dieselbe Lösung gekommen sind wie Walter Ullbricht oder Ariel Scharon: sie haben einen Zaun gebaut, der sich an der ganzen schmalen Gartengrenze entlangzieht. Der Garten ist grün und mannshoch. Ein Gitterzaun, den man oft auch in Zoologischen Gärten sieht, um ein Gepardengehege herum zum Beispiel oder um Giraffen an der Flucht zu hindern. Irgendwann wird der Zaun zuwachsen und ganz nett aussehen. Das wird noch ein paar Jahre dauern. Bis dahin wird er unübersehbar jeden in der Siedlung daran erinnern, wie anstrengend es ist, Nachbarn zu haben.

Gestern war überall Nicaragua. In der taz ein fünf-seiten-dossier, und im cinema ein filmeabend, denn: vor fünfundzwanzig Jahren haben die Sandinisten den Diktator Somoza vertrieben und auch viele Deutsche auf einen gerechten und friedlichen Neuanfang gehofft.
Was blieb? Vorgestell wurden die Filme im Cineman gestern von Volker P., einem Filmfreak, der selber mal in Nicaragua gearbeitet hat. Wenn man ihn zuhause besucht, erzählt er langsam und etwas schläfrig, wie er auf Kaffeeplantagen gearbeitet hat, weil die Männer in den Krieg gegen die von den USA finanzierten Contras ziehen mussten und ohne die Hilfe aus Europa die Kaffeeernte verfault wäre. Dann zeigt er ein paar vergilbte Zeitungsartikel (die er in einem alten Aktenordner sammelt) von den EInsätzen seiner Arbeitsbrigade oder kramt einen Videofilm aus seiner Sammlung, den irgendein entfernter Bekannter in Managua gedreht oder geschnitten hat. Für den Abend gestern hat er sich seine Haare ordentlich und kurz schneiden lassen, und er stand aufgeregt und verschwitzt am Eingang, um jedem eine Orange zu geben ("lasst sie ihre orangen essen" war eines der Motto im ideologischen Kampf gegen die Amerikaner) und auf eine Unterschriftenaktion hinzuweisen, etwas fahrig kündet er die Filme (zwei Kurz- und einen richtigen Spielfilm) an, redet ein paar der Gäste mit Vornamen an und weist ein bißchen auf die jetzige Situation in Nicaragua hin, meist wird er aus dem Publikunm verbessert, von den Errungenschaften der Sandinisten ist nicht viel geblieben, die Analphabetenrate soll wieder bei sechzig Prozent liegen, die Preise steigen weiter, dikiert von amerikanischen Konzernen, und über die Hälfte der Einwohner muß mit einem Dollar oder weniger auskommen.
Und was ist in Nicaragua von den Sandinisten geblieben? Auf manchen Hütten weht noch ihre schwarzrote Fahne, manchmal gerät man in eine lautstarke Demonstration, aber wenn man sich mit den Menschen unterhält, wirken die meisten desillusioniert und erinnern sich daran, dass sie in einem grausamen Krieg kämpfen mußten, dass die Sandinisten auch nicht jede Minderheit toleriert haben und ihre Führungspersonen schließen auch nicht weniger macht- und geldbesessen waren, auch nicht weniger korrupt, als die Führer anderer politischer Parteien.

Hoffnung!
In der ZEIT stand, warum die Zeit schneller vergeht, je älter man wird: das soll in erster Linie gar nicht daran liegen, daß die relative Länge einer Zeitspanne im Vergleich zur Gesamtlänge des bisherigen Lebens geringer wird (also ein Jahr für einen Dreijährigen ein Drittel seines Lebens ausmacht, für einen Dreißigjährigen nur noch ein Dreißigstel etc.), sondern: je monoter das Leben wird, um so weniger Zeitverlauf verbucht das Gehirn, 365 gleiche Tage werden nur wie ein Tag gespeichert, und dann vergeht die ZEIT natürlich schneller.
Also: mehr Abwechslung ins Leben bringen, öfter mal neue Herausforderungen, und das Leben wirkt viel länger. Und man hat mehr, worüber man im Weblog schreiben kann.
Und noch was macht Hoffnung: im Alter nimmt die Leistungsfähigkeit des Gehirn gar nicht ab, das soll nur eine selffullfillment prophecy sein: weil man davon ausgeht, im Alter nicht mehr soviel lernen zu können, wagt man sich an weniger Herausforderungen und wenn, dann häufig weniger optimistisch und motiviert. Und dann lernt man natürlich weniger effektiv, obwohl die Fähigkeit, zum Beispiel Sprachen oder Instrumente zu erlernen, immer noch vorhanden ist.

Ein Nachruf.
Endlich hat das unfreundlichste Internetcafé in Münster zugemacht. Das einzige Internetcafé der Welt, in dem man dumm angemacht wurde, wenn man keinen Kaffee bestellt hat (woanders gibt es die umsonst dazu). In dem ständig die Computer abstürzten, die Drucker nicht funktionierten, und selbst wenn eigenlich alles korrekt lief, bauten sich die Seiten noch langsamer auf als in jedem Internetcafé Lateinamerikas. Ich war wirklich nur ganz selten da, und immer ganz zufällig, aber jedesmal war sonst fast niemand da, und der einzige, der noch da war, hat sich über die Computer beschwert und ist ohne zu zahlen abgehauen. Der Verantwortliche war nicht nur wortkarg, ein bißchen wirkte er so, als wären seine Gäste (Gäste?) für die schlechten Computer verantwortlich. Manchmal saßen noch ein paar freundliche Libanesen dort, nebenan war eine Shawarma-Bude, und tranken Tee, aber man hatte immer ein bißchen das Gefühl, sie würden sich für ihren Landsmann schämen.

Wenn man ganz genau hinsieht, dann erkennt man doch ein bißchen Fortschritt in unserer Gesellschaft.
In der Autobahnraststätte Dollenberg hat man im Herrenklo zum Beispiel zwischen den Toilettenkabinen die Restaurantwerbung entfernt, die mit Abbildungen Appetit auf Spaghetti Bolognese und Rindsrouladen machen sollte.

Einen Spruch den ich auf Beerdigungen gar nicht mag: naja, tröstlich ist, er war ja schließlich in dem Alter...
Ist das ein Trost?? Als ob das irgendetwas ändern könnte an der Leerstelle, die ein Mensch hinterläßt. Wer stirbt, existiert nicht mehr, und wenn man ihn gerne hatte, vermißt man ihn, egal wie alt er geworden ist. Und egal wie alt er war, wir Menschen haben keine Möglichkeit, ihn zurückzuholen, wie sehr wir das auch wünschen. Nach ein paar Tagen oder Wochen fangen wir schon an, sein Gesicht zu vergessen, und falls wir selber sterben sollten, würde selbst unsere Erinnerung an ihn vergessen sein.

Gestern war ich in mehreren theologischen Fakultäten, um Bücher zu besorgen oder aus alten Heiligengeschichten zu kopieren, und nachher fragte mich meine Professorin, ob ich wüßte, dass in theologischen und juristischen Bibliotheken die meisten Bücher geklaut werden.
Aber eigentlcih wollte ich jetzt gar nichts schäbiges über Theologiestudenten schreiben, nur etwas über die Bibliotheksangestellten, aber die sind an allen Fakultäten ziemlich freakig. Gestern in der Evangelischen Theologie fragte die Aufsicht nach meiner Professorin (ich war gerade dabei den Leihschein auszufüllen): Die ist doch nich etwa von den Katholiken??? Ach so, von den Historikern. Mittelalter, hmm. Kennste dieses Lied aus den Sechzigern? Und dann hat er mir was vorgesungen über RITTER, irgendeinen Schlager im Kölner Dialekt. Ich hatte auch mal ne Ritterrüstung, als Kind, meinte er, mit so nem richtigen Schwert, hat toll geglänzt, aber war natürlich eigentlich nur Plastik, hattest du auch mal eine? Ich mußte leider verneinen.

Eigentlich ist Fortex ja der Neffe eines Stammeskönigs in Nigeria, trotzdem lebt er schon seit zehn Jahren in Deutschland und hat traurige Sachen in unserer Republik erlebt. Den größten Teil des Tages putzt er Treppenhäuser oder Restaurants, um seine Familie in Afrika zu ernähren und die Medikamente zuschicken zu können, die dort keiner bezahlen kann. Die meisten (deutschen) Arbeitgeber versuchen ihn zur Schwarzarbeit zu überreden, weil er sich weigert, hat er schon manche Arbeitstellen verloren. Um nicht illegal zu arbeiten, hat er sich für einen zwei-Stunden-Job (wöchentlich) selbstständig gemeldet und soll jetzt der Berufsgenossenschaft ca. Tausend Euro zahlen, andernfalls droht eine Haftstrafe. Seine Freundin hat er über Jahre nicht im Stich gelassen, sie täglich in den Psychiatrien besucht, in die sie eingewiesen wurde, aber die Mutter seiner Freundin, eine achtzigjähige Katholikin vom Dorf, lädt ihn trotzdem zu keinem Familienfest mit ein. Er verabscheut Ärzte, die der Meinung sind Lebensspannen festzulegen ("sie haben noch höchstens drei Monate zu leben" sagte ein Arzt zu einer krebskranken Freundin) und er ist der Meinung, solche Ärzte sind am Tod der Patienten mitschuldig, denn ohne Hoffnung könne man auch nicht leben (die Bekannte ist tatsächlich nach zwei oder drei Wochen gestorben).
Gestern hat Fortex Fußball gesehen, Italien gegen Dänemark, und was ist sein Favorit? Deutschland - "das ist nummer eins".

M. hat einen Wellensittich, der in einem relativ kleinen Käfig lebt und momentan herzzerreißend leidet, niemand weiß wieso. Er sitzt in einer Käfigecke, ein Bein von sich gestreckt, seinen Kopf in die Ecke, öffnet seine Augen kaum und sein ganzer Körper zittert in kleinen Wellen vor sich hin. Manchmal versucht er auf die Stange zu klettern, aber er kann kaum sein Gleichgewicht halten, und meistens fällt er sehr schnell wieder auf den Käfigboden.
M. leidet mit seinem Wellensittich herzzerreißend mit. Er kann sich kaum auf etwas anderes konzentrieren, mitten im Satz stoppt er, steht auf, setzt seine Brille auf, guckt sich seinen Vogel an und schüttelt den Kopf. Man hängt ja doch ganz schön an so einem Tier, meint er, und versucht dann mit dem Vogel zu sprechen, dazu verändert er seine Stimme, vielleicht will er den Vogel nicht verschrecken, und mit einer hohen Fistelstimme sagt er "Coco, Coco, hab dich lieb". Er hat sich ein gebrauchtes Pflegebuch für Wellensittiche gekauft und versucht gerade die Kapitel "wenn der Vogel krank ist" zu studieren, aber letzen Endes bleibt nur ein Tierarztbesuch übrig. Das bringt doch auch nichts, meint M., die wollen nur einen Haufen Kohle, und dann schläfern sie den Vogel ein.

Letzte Woche hat an der Warendorfer Straße ein neuer und sehr günstiger China-Imbiß eröffnet. Wir haben uns sehr gefreut, aber nach dem ersten abend waren wir etwas ernüchtert, obwohl das Essen schmeckte. Um halb zehn waren wir die einzigen gäste in dem menschenleeren Raum, nur hinter der Theke saß ein Chinese mit Goldkettchen und spielte gelangweilt mit seinem Handy, eine zierliche Verkaufskraft lächelte schüchtern über den Ladentisch und hatte später Probleme, einen Zehn-Euro-Schein zu wechseln, gesprochen hat eigentlich nur ein Perser, der zwischendurch alle Stühle zurechtgerückt hat, behauptete, den ganzen Tag über wäre der Bär los gewesen und nur einmal lächelte, als er mit seiner Digitalkamera ein Foto von den Füßen der weiblichen Bedienung zu schießen versuchte, aber als er merkte, daß ich ihn beobachtete, erstarrte sein Grinsen und er blickte ziellos und verlegen im Raum herum. Nach einer unsäglich langen Zeitspanne öffnete sich endlich die Tür, ein sehr sehr kleiner, verschwitzter Koch mit Baseball-Kappe brachte das Essen, und wir durften verschwinden.

 

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